In den Schuhen des anderen

Mit Validation desorientierte Menschen besser erreichen

„Validation heißt, die sehr alten desorientierten Menschen, die zum Teil in der Vergangenheit leben, so zu akzeptieren, wie sie sind. Wer validiert, geht mit in die Gefühlswelt der zeitlich und örtlich desorientierten Menschen – er geht in den Schuhen des anderen“, erklärt Naomi Feil in ihrem Validations-Einführungs-Workshop in der Zürcher Paulus Akademie. Das war 2011. Die Methode entwickelt die deutschamerikanische Gerontologin Naomi Feil bereits 1980. Mittlerweile wird Validation nach Feil für den Umgang mit alten und desorientierten Menschen weltweit angewandt. Jedoch muss man „validieren“ lernen und sich mit dem Thema intensiv auseinandersetzen.

Diesen Schritt geht das Seniorenzentrum St. Elisabeth dank der Förderung durch die Veronika-Stiftung seit gut einem Jahr in Kooperation mit Stephani Maser, die jahrelange Erfahrungen mit den Themen Demenz, person-zentrierte Pflege und Betreuung sowie auch Validation mitbringt und Workshops veranstaltet. Sie leitet den Anwenderkurs (Level 1) für Mitarbeitende aus den Fachbereichen Pflege, Betreuung und Hauswirtschaft. Doch was konkret kann man sich unter Validation vorstellen? „Es geht in erster Linie um die Grundhaltung im Umgang mit alten und desorientieren Menschen. Hier orientiert sich Feil an bekannten Theoretikern und Humanisten wie Freud (Psychologie) und Penfield (Neurologe). Sie arbeitete elf Prinzipien aus, die die Grundhaltung des Validierenden bestimmen“, erklärt die Validationstrainerin. Vor allem gehe es darum, den Menschen nicht zwingend in die Realität zurückzuholen, sondern ihm Sicherheit in seiner eigenen Realität zu schaffen und so vor allem seine Würde und Einzigartigkeit zu wahren. Die Gefühle und die Erlebniswelt der Menschen werden für gültig erklärt und respektiert. „Desorientierte alte Menschen sollten akzeptiert werden, wie sie sind. Wir versuchen nicht, sie zu verändern“ ist eines der Prinzipien der Grundhaltung, womit sich die Mitarbeitenden im neunmonatigen Kurs aus Praxis bzw. Reflexions- und Theorieblöcken beschäftigen. Hinzu kommen verbale und nonverbalen Kommunikationstechniken, die im Alltag helfen sollen, die zu betreuenden Menschen zu verstehen und zu erreichen.

Den Menschen als einzigartiges Individuum zu sehen ist ein Ansatz, den die Keppler-Stiftung bereits als person-zentriertes Pflegen und Betreuen nach Tom Kitwood kennt und in den Einrichtungen umsetzt. „Das ist richtig“, sagt Maser, „Kitwood bezieht die noch vor seiner Zeit veröffentlichte Methode nach Feil in seinem Konzept mit ein“, erläutert Maser den Zusammenhang. Dabei sei Validieren nichts, was man sich schnell und einfach aneignen kann, es sei ein lebenslanges Lernen aus der Praxis heraus. Es ginge schließlich um Beziehungsgestaltung, Vertrauensaufbau und Biographiearbeit. „Jeder Mensch mit Unterstützungsbedarf hat ein Recht darauf, dass man sich im Umgang mit ihm bemüht, ihn zu verstehen – unabhängig davon, wie desorientiert oder herausfordernd das Verhalten der zu pflegenden Person ist.“ Die Erfahrungen haben gezeigt, dass es immer einen Grund für das Verhalten eines Menschen gibt, erklärt Maser, wenn sie an die Lebensgeschichten denkt, mit denen sie in Berührung gekommen ist.

Zentrieren. Kalibrieren. W-Fragen. Berührungen. Wiederholungen.

Es gibt vier Phasen der Desorientierung nach Feil. So können beispielsweise Menschen in Phase eins noch gut kommunizieren und sind meistens orientiert. In Phase vier sind sie in sich zurückgezogen und kommunizieren kaum. Für jede Phase gibt es verschiedene Techniken, um sich in die Realität des Menschen besser einbringen zu können. Bei allen Phasen ist das Zentrieren ein wichtiger erster Schritt. Es geht darum, das eigene Zentrum zu finden, die eigenen Gefühle einzugestehen und diese schließlich loszulassen. Erst dann kann man sich vollständig auf sein Gegenüber einlassen und dessen Gefühle aufnehmen.
Maser erinnert sich an ihre Frustration während ihrer Ausbildung als Anwenderin. „Es ist viel und kann auch vor allem zu Beginn anstrengend sein. Unabhängig von der Grundhaltung und den Techniken: Wenn ich mich so intensiv mit der Biographie von anderen auseinandersetze, komme ich irgendwann auch zu dem Punkt, an dem ich mir über meine Biographie Gedanken mache und eigene Verhaltensstrategien reflektiere.“ Durch Validation lerne man viel über sich – für Maser eine Chance, über sich hinauszuwachsen und auf Dauer auch gesund zu arbeiten. „Mitarbeitende entwickeln eine neue Motivation und sehen innerhalb kurzer Zeit immer wieder Erfolgserlebnisse. Auf Dauer haben sie durch den Vertrauensaufbau und das Verständnis eine andere Art der Beziehung zu den Bewohner:innen“, ist sich Maser sicher.  

Timo ist seit elf Jahren im Haus als Betreuungskraft tätig und hat den Anwenderkurs erfolgreich abgeschlossen. Er nimmt viel mit – auch für sich privat. „Ich finde die ganzen Prinzipien und Techniken persönlich hilfreich. Für mich ist vor allem das Zentrieren von Bedeutung. Bevor ich auf einen Bewohner zugehe, nehme ich mir einen Moment, um mich ganz auf diese Person einlassen zu können. Diese Zeit ist wirklich wertvoll.“ Dabei setzt er sich hin, atmet bewusst und macht  die Augen zu. Nicht immer sei es einfach, sich zu zentrieren, vor allem an hektischen Tagen.
Schwester Merrin hat für sich eine eigene Technik des Zentrierens entwickelt. Sie arbeitet wie Timo auf der Demenzstation und ist seit 2012 ausgebildete Pflegefachkraft. Ihr gebe der Gedanke an Jesus die notwendige Kraft. Vieles habe sich verändert, seitdem sie validiere:
„Ich kam eigentlich schon immer gut mit den Bewohner:innen zurecht. Nun aber bin ich bei der Arbeit viel ruhiger und entspannter. Ich habe zum Beispiel verstanden, warum eine Bewohnerin immerzu auf den Tisch klopft. Es gibt Zusammenhänge aus früheren Zeiten. Mit dem Wissen kann ich damit besser und selbstbewusster umgehen und das macht mich stolz“, erzählt sie in einer gemeinsamen Reflektionsrunde mit den Kurskolleg:innen. Daniela nickt ihr zu. „Die Herangehensweise ist ganz wichtig. Das fiel mir zu Beginn schwer, weil ich sonst immer eher ein lustiger Mensch bin und dementsprechend auf die Bewohner:innen zugehe“, erzählt die 44-jährige Hauswirtschafterin. Dabei müsse man sich auf die Gefühlslage des Einzelnen einstellen und manchmal mit einer gewissen Sanftheit und Vorsicht Konversationen beginnen. „Die Validation geht immer wieder von vorne los, es hängt vom Bewohner, seinen aktuellen Umständen und seiner Stimmung ab.“ Daniela erinnert sich an eine Bewohnerin, die sich mit dem Essen schwertut und eher introvertiert ist. Der Mitarbeiterin kam die Idee, während der Mahlzeit zu validieren. „Den Zugang habe ich über die Musik gesucht. Ich habe die Bewohnerin sanft berührt und angefangen, einen alten Song zu singen, den sie gerne hört“, erzählt sie. Für Daniela war diese Erfahrung ein Erfolgserlebnis: die Bewohnerin hat sich geöffnet und auch immer wieder etwas gegessen. Schwester Merrin wirft ein, dass Geduld im Umgang mit desorientierten Menschen sehr wichtig sei. Sie dürfen so sein, wie sie in einem Moment sein möchten – man müsse nicht immer „eingreifen“. Und manchmal, da dringt man doch nicht zu Menschen durch, wie Timo in einer Betreuungssituation erfahren musste. „Ich habe verschiedene Techniken probiert, aber erreichte den Mann trotzdem nicht.“ Es sei ein Lernprozess, das unterstreicht auch die Kursleiterin, die derzeit an den Voraussetzungen arbeitet, um Master zu werdem, dem höchsten Level in der Validation, um schließlich die „teacher“ (dt. für „Lehrer:innen“) auszubilden.

Für die Teilnehmer:innen ist der Arbeitsalltag ohne Validation nun kaum denkbar. Der Unterschied im Umgang mit alten desorientieren Menschen zeigt sich bei ihnen bereits nach dem Anwenderkurs. „Ich kann mit fast jeder Situation besser umgehen und Menschen noch stärker in ihrer Individualität annehmen“, so Schwester Merrin. „Sehr oft ist sogar die Bedarfsmedikation nicht mehr notwendig, nachdem ich einen Menschen vielleicht fünf bis zehn Minuten validiert habe“. „Wir sind trotzdem alle noch am Anfang“, sagt Timo motiviert, „es geht weiter!“